Mag mal jemand lesen und mir sagen, ob die wirklich unheimlich ist? Für mich als Nutzer des ÖPNV ist sie's, aber der ist auch normal schon gruselig XD
Süaß beiseite, wenn ihr Zeit habt, lest sie und sagt mir bitte, wie sie euch gefallen hat. Danke!
Endsville
Im letzten Moment sprang Melanie in die S-Bahn. Die Türen schlossen sich direkt hinter ihr und hätten beinahe ihren Rucksack zerquetscht. Melanie gähnte und setzte sich auf einen der wenigen freien Plätze. Sie hasste es, seitwärts zu fahren, denn davon wurde ihr immer etwas schlecht, aber stehen hasste sie noch mehr. Sie stellte den Rucksack unter den Sitz und kramte trotz drohender Übelkeit einen Roman hervor, den sie soeben in der Bahnhofsbuchhandlung gekauft hatte: „Stark“ von Stephen King, ihrem Lieblingsautor.
Sie lehnte sich zurück und begann zu lesen, doch schon auf Seite 12 fielen ihr immer wieder die Augen zu. Sie hatte die letzte Nacht kaum geschlafen, um für die heutige Matheklausur zu lernen, hatte aber enttäuscht feststellen müssen, dass sie trotz der Paukerei kaum eine Frage hatte beantworten können. Ich hätte auch einfach schlafen können, dachte sie grummelnd und las den letzten Absatz nochmal, denn beim ersten Mal hatte sie dessen Inhalt vor Müdigkeit kaum wahrgenommen.
„Ich brauche dringend einen Kaffee“, murmelte sie, während sich ihre Augen langsam schlossen.
„Nächster Halt: Endstation“, tönte es blechern aus den Lautsprechern, „wir bitten alle Fahrgäste, auszusteigen.“ Schlaftrunken sah Melanie sich um und war sofort hellwach. Verdammt, sie hatte ihre Haltestelle verschlafen! Sie war alleine im Waggon, und in der Dunkelheit vor den Fenstern huschten Industriegebäude vorbei, die sie noch nie gesehen hatte. Wo, zum Teufel, war sie?
Sie lief zur Tür, die in den vorderen Waggon führte, aber die war verschlossen, ebenso wie die hintere Tür. Seltsam. Die S-Bahn rollte langsam aus und kam mit einem Ruck zu stehen. Melanie öffnete die automatische Tür und blickte hinaus. Schwarze Finsternis umfing sie, und nur das rote Äußere des Zuges war zu erkennen, doch es wirkte bräunlich-schmutzig, fast wie getrocknetes Blut.
„Sei nicht albern“, murmelte Melanie, als sie vorsichtig aus stieg, „kaum ist es dunkel benimmst du dich wie ein Kleinkind!“
Sie spähte durch alle Fenster des Zuahes, aber bis auf ihren Waggon war keiner beleuchtet und sie konnte durch die blinden und mit Graffiti besprühten Scheiben nichts erkennen. Hoffnungsvoll lief sie nach vorne zur Lok, aber die Führerkabine war leer. Das konnte nicht sein! Sie hatte niemanden außer sich selbst aussteigen sehen, und der Zug war schließlich nicht von allein hierher gefahren! So weit war die Technik nun auch wieder nicht, oder? „Vielleicht doch“, flüsterte eine Stimme in Melanies Kopf, doch sie verscheuchte den Gedanken. Das war völlig absurd, hier MUSSTE irgendjemand sein!
Energisch schritt sie nochmal alle Waggons ab und versuchte, die Türen zu öffnen, doch alle blieben verschlossen. Nur die Tür, aus der sie den Zug verlassen hatte, stand noch offen. Doch das künstliche Licht, das herausstrahlte, wirkte nicht mehr warm und einladend, sondern wie die Lampe eines Anglerfisches, der sein Opfer in eine Falle locken wollte. Melanie bekam eine Gänsehaut und entfernte sich schnellen Schrittes von der Tür.
Das hier ist doch ein Bahnhof, dachte sie, also muss es einen Ausgang geben. Vielleicht am anderen Ende des Bahnsteiges? Schnell ging sie weiter, zwang sich aber, nicht zu rennen. Das wäre ihr albern vorgekommen, es war schließlich nur ein ganz normaler Bahnhof, und es war auch niemand hinter ihr her. Hoffte sie zumindest. Allerdings wäre es ein Leichtes für einen Verfolger gewesen, sich zu verbergen, denn es gab keine Beleuchtung weit und breit, und Melanie hatte sich nun schon ein ganzes Stück vom erleuchteten Waggon entfernt.
Plötzlich machte sie einen Schritt ins Leere und konnte im letzten Moment einen Sturz in den tiefschwarzen Abgrund verhindern, indem sie sich nach hinten fallen ließ. Sie landete unsanft auf dem Hosenboden und starrte entsetzt in die Leere, die vor ihr lag. Dort war nur Schwärze, ebenso links und rechts von ihr, und sogar der Himmel war sternenlos schwarz. Kein Baum, kein Haltesignal, kein Wartehäuschen. Noch nicht einmal einen Fahrplan gab es hier, geschweige denn ein Schild, das ihr mitteilte, wo sie überhaupt war.
Melanie rappelte sich auf uns ging vorsichtig ein paar Schritte rückwärts. Sie versuchte erneut, sich einzureden, dass das alles eine logische Erklärung haben musste, aber das glaubte sie selbst nicht mehr. Egal wie dunkel es draußen war, er dürfte einfach keine völlige Finsternis geben. Schon gar nicht auf einem Bahnhof, auch wenn es vielleicht nur ein Abstellgleis war. Und kein Lokführer der Welt würde seinen Zug mit offener Tür unbeaufsichtigt herumstehen lassen! Irgendwas war hier faul, oberfaul, und Melanie war sich nicht sicher, ob sie des Rätsels Lösung wirklich wissen.
Sie hatte sich dem Zug, immer noch rückwärts gehend, schon wieder ein ganzes Stück genährt, als hinter ihr ein Brummen ertönte. Blitzschnell drehte sie sich um und sah entsetzt, wie die Waggontür sich schloss und der Zug sich langsam wieder in Bewegung setzte.
„Nein!“, schrie sie auf und rannte stolpernd dem Zug hinterher, „nein, lassen Sie mich hier nicht allein!!“
Doch der Fahrer, wenn es einen gab, dachte anscheinend nicht daran, anzuhalten. Der Zug gewann schnell an Fahrt und entfernte sich immer weiter von Melanie, und damit wurde auch das einzige Licht in diesem düsteren Nirgendwo immer kleiner und blasser.
Das Mädchen rannte weiter, die Panik verlieh ihr eine nahezu unmenschliche Geschwindigkeit, und sie schrie immer wieder, der Zug solle anhalten, aber es brachte alles nichts. Nur ein paar Sekunden später war der Zug schon in der Ferne verschwunden und Melanie stand in völliger Finsternis auf dem Bahnsteig. Außer Atem und mit Tränen in den Augen blieb sie stehen, aus Angst, erneut einen falschen Schritt zu tun und diesmal wirklich im Abgrund zu landen. Ihr Verstand spulte die verschiedensten Szenarien ab, die noch folgen könnten, aber keines davon half Melanie, sich zu beruhigen. Ganz im Gegenteil.
„Was ist das hier nur für eine Scheiße“, schniefte sie, „ich will doch einfach nur nach hause!“
Ein Rascheln hinter ihr ließ Melanie herumfahren. Sie riss die Augen auf und starrte angestrengt in die Dunkelheit, konnte aber wie erwartet nichts erkennen. Blind streckte sie die Arme aus, hoffend und bangend zugleich, wirklich etwas zu ertasten, aber da war nichts.
Plötzlich spürte sie einen rasselnden Atem in ihrem Nacken, der sie erstarren ließ. Wer immer hinter ihr stand, hatte sich lautlos bewegt wie eine Katze, und konnte wahrscheinlich auch genau so gut sehen wie eine. Zwei Eigenschaften, die Melanie jetzt auch gut gebrauchen könnte.
„Willkommen in Endsville“, flüsterte eine heisere, unmenschliche Stimme in ihr Ohr, „dem Ort, an dem alle Züge enden. Und nicht nur Züge...“
„NEIN!“ Melanie riss die Augen auf und wurde vom Sonnenlicht geblendet. Sie blinzelte und blickte in die Gesichter verschiedener Passagiere, die sie teils belustigt, teils verärgert musterten. Verwirrt sah sie sich um. Draußen ging langsam sie Sonne unter und tauchte die vertrauten Gebäude ihrer Heimatstadt in rosiges Licht.
Sie war immer noch im Zug, stellte Melanie erleichtert fest, aber nicht in dem Horrorzug, sondern in der S-Bahn, die sie kannte und täglich nutzte. Und ihre Haltestelle hatte sie auch nicht verpasst! Sie seufzte erleichtert, kuschelte sich in den Sitz und hatte den Traum schon fast wieder vergessen. So war es immer, kaum ein Traum hielt sich lange in ihren Erinnerungen. Irgendwas mit einem Bahnhof, dachte sie, und dunkel war’s.
Sie streckte die Beine aus und stieß dabei mit dem Fuß gegen etwas. Ach ja, das Buch, das sie während der Fahrt gelesen hatte. Es musste heruntergefallen sein, während sie schlief. Gut, dass es keiner geklaut hatte. Der Rucksack war auch noch da. Glück gehabt!
Sie beugte sich nach vorne, um das Buch aufzuheben und wieder in den Rucksack zu stecken. Dabei fiel ihr Blick auf Seite 44, die gerade aufgeschlagen war, und wie von einem Tier gebissen zog sie ruckartig die Hand zurück, und sämtliche Farbe wich ihr aus dem Gesicht. Mit bebenden Lippen las sie flüsternd, was dort stand:
Endsville, sagte Stark gelassen. Der Ort, an dem alle Züge enden.